Unterricht weiterzuentwickeln gelingt am besten gemeinsam, auf der Basis konkreter Beobachtungen von Lernprozessen. Genau hier setzt Lesson Study an. Als Teilnehmer eines Lesson-Study-Projekts in Bayern durfte ich gemeinsam mit drei Kollegen aus dem Fach BwR (Betriebswirtschaftslehre und Rechnungswesen) diesen Ansatz praktisch erproben. Im Mittelpunkt stand eine Hospitation zum Stundenthema Umsatzsteuer bzw. Prozentrechnung, bei der wir den Einsatz digitaler Tools, konkret H5P, systematisch untersucht haben. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse waren überraschend tiefgehend und gewinnbringend.

Was ist Lesson Study eigentlich?

Lesson Study ist ein aus Japan stammendes Konzept der kooperativen Unterrichtsentwicklung, das dort seit über 100 Jahren fest im Schulalltag verankert ist. Lehrkräfte planen dabei gemeinsam eine Unterrichtsstunde, führen sie durch, beobachten gezielt das Lernen einzelner Schüler und reflektieren anschließend gemeinsam die Ergebnisse.

Abgrenzung zur kollegialen Hospitation

Im Unterschied zur klassischen kollegialen Hospitation liegt der Fokus bei Lesson Study nicht auf dem Unterrichtsverhalten der Lehrkraft, sondern ausschließlich auf den Lernaktivitäten der Schüler. Im Mittelpunkt steht nicht die Lehrperson, sondern die Frage: Wie lernen Schüler in dieser konkreten Unterrichtssituation? Wie reagieren die Schüler? Welche Strategien wirken? Im Gegensatz zu herkömmlichen Methoden ist Lesson Study zyklisch und forschend – es geht um das Generieren neuer Erkenntnisse, nicht nur um Feedback. Während bei Hospitationen oft allgemeine Eindrücke gesammelt oder Rückmeldungen zur Unterrichtsführung gegeben werden, folgt Lesson Study einem klar strukturierten, forschenden Ansatz mit vorab festgelegten Beobachtungsschwerpunkten. Die Reflexion ist datenbasiert und zielgerichtet – nicht subjektiv oder bewertend.

Typischer Ablauf

Der Ablauf von Lesson Study folgt einem klaren Zyklus, der sich mehrmals wiederholen kann:

  1. Planungsphase: Die Gruppe trifft sich, um eine konkrete LUnterrichtsstunde zu entwickeln. Dabei werden Lernziele definiert, mögliche Schülerreaktionen antizipiert und Beobachtungskriterien festgelegt (z. B. Fokus auf Engagement oder kognitive Aktivierung). Das Team einigt sich auf eine Fragestellung (z. B. Wirksamkeit digitaler Aufgabenformate).
  2. Durchführung und Beobachtung: Eine Lehrkraft hält die Stunde, die anderen beobachten jeweils einen Schüler. Notizen zu Verhalten, Interaktionen und Lernprozessen werden gemacht.
  3. Reflexionsphase: Direkt im Anschluss wird die Lektion in der Gruppe besprochen. Daten (z. B. Beobachtungsnotizen) werden analysiert, Erkenntnisse gezogen und die Lektion überarbeitet.
  4. Iteration: Oft wird die überarbeitete Lektion in einer anderen Klasse getestet, um den Prozess zu vertiefen.

Praxistest

Unser Lesson-Study-Team setzt sich aus vier Lehrkräften unterschiedlicher Realschulen in Mittelfranken zusammen. Für die Durchführung der Hospitation trafen wir uns dann an einer Schule, um die Unterrichtsstunde gemeinsam vor Ort zu beobachten und auszuwerten. Die Schüler wurden im Vorfeld selbstverständlich auf die besondere Unterrichtssituation vorbereitet.

In unserem Projekt haben wir uns auf den Einsatz von H5P – einem interaktiven digitalen Tool für Lerninhalte – konzentriert. Die Hospitation fand in einer BwR-Stunde zum Thema Umsatzsteuer und Prozentrechnung statt. Jede von uns drei Beobachtern hat einen Schüler intensiv beobachtet und mit Uhrzeit notiert, was genau passierte: Welche Aktionen unternahm der Schüler? War er engagiert? Wir haben Klebezettel verwendet, um diese Beobachtungen festzuhalten, und sie anschließend an der Tafel gesammelt. Die X-Achse repräsentierte die Zeit, die Y-Achse das Engagement-Level – eine einfache, aber effektive Visualisierung!

Screenshot Ergebnis an der Tafel festgehalten

Multiple-Choice-Fragen führten häufig zu Versuch-and-Irrtum-Strategien. Schüler klickten sich teilweise ohne vertiefte Auseinandersetzung durch die Antworten. Komplexere Aufgaben mit offenen Eingabefeldern zeigten hingegen eine deutlich höhere kognitive Aktivierung. Hier wurde gerechnet, überlegt und sichtbar länger und motivierter am Problem gearbeitet. Die sofortige Rückmeldung durch H5P wurde laut abschließendem Fragebogen unterschiedlich, aber mehrheitlich als motivierend wahrgenommen. Einige Schüler schätzten die direkte Kontrolle, andere empfanden falsche Rückmeldungen als kurzzeitig frustrierend – ein wichtiger Hinweis für die Gestaltung von Feedback.

Die zeitlich strukturierte Visualisierung des Engagements an der Tafel erwies sich als besonders hilfreich, um Lernphasen, Aktivierungsspitzen und Durchhänger sichtbar zu machen.

Gerade für die unterrichtende Lehrkraft erwies sich die Lesson Study als außerordentlich hilfreich. Durch die gebündelten Beobachtungen Kollegen entstand ein differenziertes Bild einzelner Schüler, das im normalen Unterricht kaum möglich ist. Verhaltensweisen, Arbeitsrhythmen und persönliche Lernbedürfnisse wurden sichtbar und nachvollziehbar – etwa, dass einzelne Lernende bewusst kurze Pausen benötigten, andere regelmäßig die Hilfe ihres Banknachbarn suchten oder unterschiedlich auf digitale Rückmeldungen reagierten. Diese Einblicke ermöglichten es der Lehrkraft, Schülerverhalten nicht nur zu sehen, sondern zu verstehen, und daraus konkrete Konsequenzen für den weiteren Unterricht in dieser Klasse abzuleiten.

Digitale Erfassung

Die Erfassung der Beobachtungen mit Klebezetteln erwies sich zwar als niedrigschwellig, anschaulich und insgesamt sehr effektiv, insbesondere für die gemeinsame Auswertung im Anschluss. Gleichzeitig wurde deutlich, dass eine digitale Form der Datenerhebung langfristig Vorteile bietet – etwa im Hinblick auf Übersichtlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Weiterverarbeitung der Beobachtungen. Vor diesem Hintergrund habe ich begonnen, eine Moodle-Datenbankaktivität zu entwickeln, die die strukturierte Erfassung von Beobachtungen während einer Lesson Study ermöglicht und den kooperativen Auswertungsprozess künftig weiter unterstützen kann.

Screenshot Moodle Datenbankaktivität

Fazit

Lesson Study hat uns gezeigt, wie wertvoll es ist, Unterrichtsentwicklung gemeinsam zu betreiben. Der strukturierte Blick auf das Lernen einzelner Schüler eröffnete Perspektiven, die im Alltag leicht verborgen bleiben.